Das Welträtsel und die Rechtssprechung

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Filly
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Registriert: Mo 18. Jan 2021, 23:00

Das Welträtsel und die Rechtssprechung

Beitrag von Filly »

Moin,

ich lese gerade das Buch "Die Welträtsel" von Ernst Haeckel und bin gleich im ersten Kapitel auf einen interessanten Abschnitt gestoßen, der mMn wunderbar zu den in diesem Forum diskutierten Themenkomplexen, z.B. das nicht nachvollziehbare Verbot von Hanf, passt.

Kurz zum Kontext: Ernst Haeckel (1834-1919) war Biologe und Philosoph. In seinem Werk "Die Welträtsel" von 1899 entwickelt er seine "Monismustheorie". Vereinfacht gesagt vertritt er die Ansicht, alles sei Natur. Auch das für uns "Übernatürliche" ist Natur, auch wenn es nicht mit unseren naturwissenschaftlichen Methoden zu greifen ist (vgl. Spinoza: "Deus sive natura"). Jedenfalls leugnet er die dissoziative Weltanschauung der großen (modernen) Religion mit der Trennung zwischen Diesseits und Jenseits etc.

Im von mir zitierten Textabschnitt beschwert sich Haeckel darüber, dass in der Rechtssprechung nicht der Mensch und seine natürlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, sondern sog. "höhere Werte", seien sie weltlicher oder religöser Natur. Jedenfalls geht es nicht um den Menschen sondern um die Verteidigung von etablierten Herrschaftsformen und "Prinzipien", auch wenn sie noch so lächerlich sind.

Nun sind wir uns vermutlich einig darüber, dass sich in den vergangenen 120 Jahren einiges getan hat (zumindest seit dem letzten Krieg). Der Kern der Sache ist aber sicher auch heute genauso aktuell wie eh und je.

Aber lest selbst:
Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem »Fundamentum regnorum«. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntnis des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urteilen lesen, über welche der »gesunde Menschenverstand« bedenklich das Haupt schüttelt; viele Entscheidungen unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen davon ab, daß in vielen modernen Staaten – trotz der auf Papier gedruckten Verfassung – noch tatsächlich der Absolutismus herrscht, und daß manche »Männer des Rechts« nicht nach ehrlicher Überzeugung urteilen, sondern entsprechend dem »höheren Wunsche von maßgebender Stelle«. Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urteilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrtümer durch mangelhafte Vorbildung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen: werden sie ja doch gerade deshalb bei der Besetzung der verschiedensten Ämter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte »juristische Bildung« ist größtenteils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Hauptobjekt ihrer Tätigkeit, den menschlichen Organismus und seine wichtigste Funktion, die Seele lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z.B. die wunderlichen Ansichten von »Willensfreiheit, Verantwortung« usw., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juristen versicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der sich jeder Mensch entwickelt, lebendig sei, ebenso mit Leben begabt wie der Embryo von zwei oder sieben oder neun Monaten, fand ich nur ungläubiges Lächeln. Den meisten Studierenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwicklungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurteilung des Menschenwesens. Freilich bleibt dazu auch »keine Zeit«; diese wird vielfach nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch (Anmerkung Filly: Hahaha!) genommen sowie das »veredelnde« Mensurenwesen. Der Rest der kostbaren Studienzeit aber ist notwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntnis den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kulturstaate befähigt.

Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen, da die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens allbekannt und jedermann täglich fühlbar sind. Zum großen Teile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntnis der Menschennatur, die nur durch vergleichende Anthropologie und monistische Psychologie erworben werden kann, – ohne jene Kenntnis der sozialen Verhältnisse, deren organische Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwicklungsgeschichte, die Zellentheorie und die Protistenkunde liefert. »Bau und Leben des sozialen Körpers«, d.h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntnis von »Bau und Leben« der Personen besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse unsere »Staatslenker« besäßen und unsere »Volksvertreter«, die mit ihnen zusammenwirken, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von soziologischen Irrtümern und von politischer Kannegießerei zu lesen sein, welche unsere Parlamentsberichte und auch viele Regierungserlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen.

Das schlimmste ist, wenn der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornierte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dann entstehen so traurige Bilder, wie sie uns leider am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts der deutsche Reichstag vor Augen führt: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Zentrums, unter der Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? soll er theokratisch durch unvernünftige Glaubenssätze und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden?
Eine kurze Anmerkung noch von mir: Haeckel als Kind seiner Zeit ist sehr beschwingt vom naturwissenschaftlichen Fortschritt des 19. Jhd. Vieles sehe ich persönlich (als gelernter Naturwissenschaftler) eher kritisch, aber den Kern trifft er wunderbar.

Gruß,

Phil
Dummheit hört sich gern auf große Trommeln schlagen
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