Sucht: Reduktion statt Abstinenz

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pepre
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Registriert: Di 19. Okt 2021, 11:31

Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von pepre »

Lesenswert: Neue Therapie bei Alkoholikern
Lange Zeit galt Abstinenz, also der absolute Verzicht auf Alkohol, als die einzige Therapiemöglichkeit. ... Das beruht vor allem auf einem Krankheitsverständnis aus den 1960er-Jahren. So hieß es in dem damals veröffentlichen Buch "Das medizinische Krankheitsmodell des Alkoholismus" von Elvin Morton Jellinek, dass die Neigung zum Alkoholismus weitgehend genetisch vorbestimmt sei: Entweder man war Alkoholiker oder nicht, es gab keine Abstufungen. Das Erlernen des kontrollierten Trinkens war damit unmöglich.
Dieses "Süchtige müssen komplett abstinent werden"-Denken gilt ja auch für alle anderen Drogen. Zumindest ist das immer noch die Lehrmeinung im Elfenbeinturm (und der bewegt sich nur höchst träge weiter). Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich da mal ein realistischeres Bild von Sucht und deren Ursachen etabliert. — Es ist auch bezeichnend, dass sich Fortschritte eher bei den Praktikern (den Therapeuten) verzeichnen lassen, als bei den Theoretikern an den Unis. Bis mal Forschungsergebnisse in die Lehre einsickern muss immer erst die alte Garde an Profs wegsterben. Leider.
Freno
Beiträge: 758
Registriert: Do 7. Jan 2021, 17:00

Re: Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von Freno »

Das Problem liegt im wortwörtlichen Sinne "tiefer" - nämlich in der Tiefenpsychologie, welche auf der Psychoanalyse beruht, die zuförderst eine medizinische - psychotherapeutische - Behandlungsmethode ist. Diese hat aber so einiges zutage gebracht, was "man" ums Verrecken nicht wissen will, nämlich: der "Kulturmensch", wie mein Guru Sigmund Freud das nennt, schleppt regelmässig massive Ängste, vor allem Angst vor Strafe, Schuldgefühle und Aggressionen mit sich, die genauso regelmässig aus der Kindheit stammen. Ihre Ursachen sind verdrängt - sowohl von den betroffenen Individuen, als auch von "der Gesellschaft" und "der Poltik", nicht zuletzt, weil diese Ursachen hochgradig politisch inkorrekt sind: was nicht sein darf, das kann nicht sein. Die Kindheit ist für jeden (!) Kulturmenschen regelmässig die schrecklichste Zeit seines Lebens - nur Opfer von individuellen Verbrechen, Krieg, Unglücksfällen oder schwerster Erkrankungen usw erleiden noch Schlimmeres. Die "glückliche Kindheit" ist eine individuelle wie kollektive Schizophrenie. Polemisch ausgedrückt: fiele der Mensch unter das Tierschutzgesetz: er müsste als "Qualzüchtung" sofort verboten werden.

"Drogen" jeder Art dienen nach Freud der "Intoxination" dieser innerpsychischen Spannungsvorgänge. Hinter jeder substanzbezogenen Sucht stehen diese vorgenannten, von ihren biographischen Ursprüngen "dissoziierten" Affekte. Ich kann das hier nur anreißen - "Das Unbehagen in der Kultur" von S. Freud von 1930 liefert ein plastisches und konkretes Bild von dem, was ich hier nur andeuten kann.

Der "comon sense" vom Menschen als "Krone der Schöpfung" oder der Evolution kann es nun mal einfach nicht "annehmen", daß "der Mensch" konstitutiv ein Psycho-Krüppel ist, der regelmässig ohne "Drogen" nicht auskommt.
moepens
Beiträge: 997
Registriert: Fr 16. Jun 2017, 07:45

Re: Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von moepens »

Freud war schon zu Lebzeiten umstritten. Seine Erklärungen waren in sich geschlossen und er berichtete problemorientiert über extreme Fälle, oft im sexuellen Kontext.
Heutzutage wird er von den meisten Psychotherapeuten übergangen, relevant ist er v.a. in der Lehre.

Große Errungenschaften seiner Arbeit waren u.a. die Rolle der Gesprächstherapie bei der Heilung von psychischen Erkrankungen und die Übertragung. Allerdings förderten spätere Arbeiten weiteres zutage und nur in diesem größeren Kontext besteht Relevanz z.B. für die Pädagogik.

Dennoch bleibt Freuds Lektüre faszinierend und seine Perspektive und Erklärungsversuche sind weiterhin ungewöhnlich.
Freno
Beiträge: 758
Registriert: Do 7. Jan 2021, 17:00

Re: Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von Freno »

@ moepens

Mir hat Freud das Leben gerettet, weswegen ich ihn auch gerne meinen "Heiligen Sigmund v.d. Neurose" nenne.Ich habe unter einer sehr schweren, lebensbedrohlichen Hautkrankheit gelitten, die durch die Psychoanalyse "klassisch nach Freud" heute zu einer nur selten lästigen Nebensache geworden ist. Leider sind, va aufgrund meine fortgeschrittenen Lebensalters, die rein psychischen Probleme erhalten geblieben und bedürfen u.a. auch der "Intoxination" durch medizinisches Cannabis.

Ich bin von meiner philosophischen Schule her radikaler Pragmatiker: gut, richtig, wahr (oder wie auch immer) ist das, was nützt, was bei den konkreten existenziellen Problemen weiterhilft. Ob es in einem erkenntnistheoretischen Sinne "logisch-schlüssig" ist, wissenschaftlich "erwiesen" oder "wiederlegt" (wie man es von der Psychoanalyse immer wieder behauptet), politisch korrekt oder inkorrekt ist, moralisch oder unmoralisch interessiert mich überhaupt nicht. Mir macht es nichts aus, als heterodox zu gelten.

Nicht nur ich bin "gestört" - "wir alle" sind es und bedürfen daher im Regelfall - unter anderem - dieser "Intoxination". Ob sie nun durch Korn, Bier, Schnaps und Wein oder Cannabis oder Cristal Meth oder Heroin erfolgt, ist prinzipiell total egal und eigentlich nur eine Frage der individuellen und sozialen Nebenwirkungen, die allerdings von äußerster Relevanz ist.
moepens
Beiträge: 997
Registriert: Fr 16. Jun 2017, 07:45

Re: Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von moepens »

Einer meiner Professoren hatte gepredigt, dass die Freud'sche Psychoanalyse im Selbstversuch eine lebenslange Aufgabe sei.

Viele sind nicht überzeugt vom Konzept - weniger Kritik gibt es bei Jung und Adler. Aber natürlich ist die Hauptsache, dass man gesundheitlich profitieren kann.

Persönlich finde ich neben der (Gegen)Übertragung und Erklärungsmodellen welche Gefühle miteinbeziehen die Theorie vom Prothesenmensch am Interessantesten.
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Martin Mainz
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Re: Sucht: Reduktion statt Abstinenz

Beitrag von Martin Mainz »

Ok, gleich mach ich nen neuen Strang für euch auf :mrgreen: Zurück zum Thema
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